Erste Resonanz von Bischof Peter Kohlgraf

Bischof Peter Kohlgraf. Foto: Bistum Mainz
Bischof Peter Kohlgraf. Foto: Bistum Mainz

Heute Morgen haben Rechtsanwalt Ulrich Weber und sein Team die Studie zur sexualisierten Gewalt im Bistum Mainz an Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen seit 1945 vorgestellt. Es zeichnete sich bereits in anderen Bistümern ab, dass die Ergebnisse erschreckend sind, das gilt auch für die Situation im Bistum Mainz.

Bewusst haben wir uns in der Konzeption der Studie nicht für einen rein juristischen Ansatz entschieden. Die ausschließliche Betrachtung der Akten hätte angesichts einer unsystematischen Aktenführung in diesen Jahrzehnten kein verlässliches Bild ergeben. Die Studie ist vorwiegend aufgrund von Gesprächen entstanden. Menschen, die selbst betroffen sind, und Menschen, die etwas wissen und erfahren haben, haben ihre Geschichte erzählt. Dazu gehörte Mut. Ich danke den vielen Menschen, die sich gemeldet und ihre Geschichte geteilt haben. Diese Schilderungen erzählen von schlimmen Erfahrungen, von Verbrechen, die Leben zerstört haben und bis heute Lebensgeschichten prägen. Auch ihre Glaubensheimat ist Menschen zerstört worden. Ein Glaube, der Menschen großmachen soll, der ihnen Sicherheit und ein festes Fundament geben soll, ist mit Gewalt zerstört worden. Kleriker und andere haben sich auf Kosten der ihnen Anvertrauten großgemacht, sie haben andere in vielerlei Hinsicht schrecklich missbraucht. Zusätzlich haben wir Rechtsanwalt Weber freien Zugang zu allen Aktenbeständen ermöglicht. Er hat selbst bestätigt, dass der Zugang in keiner Weise beschränkt wurde. Er hat sehen können, was sich in den Akten wiederfindet und was nicht. Die Studie trägt den Titel: „Erfahren – Verstehen – Vorsorgen“ (EVV).

Was habe ich erfahren?
Was habe ich erfahren? Ich habe etwas sehr Substantielles erfahren über das Bistum, das ich leite. Als Bischof habe ich Verantwortung übernommen, auch für die Geschichte des Bistums Mainz. Ich habe etwas erfahren über die systemischen Ursachen des Missbrauchs an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen. Und: Personen haben versagt. Es hat in der Zeit von Kardinal Lehmann, Kardinal Volk und auch davor große Verfehlungen und Versäumnisse im Bistum an vielen Stellen gegeben. Es ist wichtig, dass das mit der EVV-Studie heute öffentlich wird. Die Taten und Vergehen, die mit der Studie an die Öffentlichkeit kommen, gehören genauso wie das Wegsehen und die Unfähigkeit Betroffenen Gehör und Glauben zu schenken, zur Geschichte des Bistums Mainz. Deshalb ist es wichtig, dieses Versagen bei der Bewertung des Lebens von Bischöfen wie Stohr, Volk und Lehmann nicht auszusparen. So wichtig ihre Verdienste in vielen Bereichen waren, so unmissverständlich haben wir heute Morgen auch gehört: Ihnen war der Schutz von Tätern und Kirche wichtiger als die Not von Betroffenen, auch wenn es in der Amtszeit von Kardinal Lehmann unterschiedliche Phasen des Umgangs gibt.

In einer ersten Reaktion auf das Gehörte von heute kann ich sagen: Um der Wahrheit für die Betroffenen willen darf es keine unantastbaren Denkmäler mehr geben. Das gilt für Kardinäle und Bischöfe, das gilt auch für Denkmäler anderer Ebenen. Auch andere Leitungspersonen haben versagt. Vor allem aber hat Rechtsanwalt Weber uns heute Morgen deutlich gemacht: Ein ganzes System hat versagt. Nicht nur die Leitungsebene ist ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden - auch andere Ebenen haben versagt. Das müssen wir uns noch genau anschauen. Menschen wollten nicht hinschauen, in Familien wollte man nicht glauben oder nicht reagieren, Gemeinden haben relativiert. Dahinter steht ein überhöhtes Bild vom Priester als Vater und heiligem Mann. So hat man sich gegenseitig geschützt, wie in einer geschlossenen Gesellschaft. Und eine Theologie hat teils versagt, weil sie überhöhte Priesterbilder entwickelt und ausgebaut hat.

Was habe ich verstanden?
Was habe ich verstanden? Zumindest beginne ich immer mehr lernend zu verstehen – so würde ich es für mich sagen. Ich lerne zu verstehen, welches Unheil Missbrauch in das Leben von Menschen, Familien, Gruppen und Gemeinden gebracht hat. Ich lerne immer mehr das System zu verstehen, das es bis heute Betroffenen schwermacht, ihre Geschichte zu erzählen. Es geht um Machtverhältnisse, um Verschweigen, um Relativieren, Betroffene haben Druck und Ignoranz erlebt. Wir reden über ein Verbrechen und nicht über einzelne Skandale oder das Versagen einzelner. Wir reden nicht über „Zölibatsverstöße“, oder wie immer man die Missbrauchstaten einzuordnen versucht hat und noch heute versucht. Menschen sind zerstört worden, Glauben und Vertrauen. Ich versuche auch zu verstehen, welche Priesterbilder derartiges Verhalten gefördert und scheinbar theologisch legitimiert haben. Heute gilt es, eine Sprachfähigkeit zu entwickeln. Die Kommunikation mit Gemeinden und anderen Einrichtungen wird immer wichtiger werden.

Ich werde als Bischof, gemeinsam mit der Bevollmächtigten und dem Generalvikar sowie mit den verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern alles tun, um Vorsorge zu treffen. Die Studie hat auch gezeigt: Wir fangen nicht bei Null an. Wir arbeiten weiter an transparenten Verfahren, Intervention muss wirksam und professionell gestaltet werden. Die begonnenen Schritte gehen wir konsequent weiter. Rechtsanwalt Weber hat keinen Maßnahmenkatalog entwickelt, das ist unsere Aufgabe und die Aufgabe der unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum Mainz, die uns in den nun anstehenden Fragen und Weichenstellungen eng beraten wird. Es ist mir als Bischof von Mainz persönlich ein wichtiges Anliegen, meine Verantwortung wahrzunehmen und mit den Menschen im Bistum die künftigen Wege zu gestalten. Der Blick in die Vergangenheit ist wichtig, um die Zukunft gestalten zu können, wir werden uns weiterentwickeln. Jetzt gilt es zunächst, die umfangreiche Studie zu lesen. Aber schon jetzt kann ich sagen: Die EVVStudie ist ein Meilenstein auf unserem Weg, dieses Thema aus der Tabu-Zone zu holen, die Fragen und Bedürfnisse von Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen und unseren Weg eines transparenten Umgangs mit Missbrauch und der Weiterentwicklung unserer Präventionsarbeit konsequent weiterzugehen. Mir ist sehr wichtig zu betonen, dass die EVV-Studie nicht der Abschluss der Aufarbeitung ist. Konkrete Erkenntnisse und Fragen werden wir am 8. März vorstellen und diskutieren.

Mainz, 3. März 2023
Quelle: Bistum Mainz